Kulturelle Camps für Kinder und Jugendliche

Seit den frühen 90er Jahren organisieren indigene Aktivistinnen in Westsibirien Sommercamps für Kinder und Jugendliche.

Das Konzept der Camps ist einerseits, bei den Kindern das Interesse für die eigene kulturelle Herkunft zu wecken und andererseits auch bewusstes Aneignen der Errungenschaften der modernen Welt zu ermöglichen. Zu den weiteren Zielen der Camps gehören: Verwurzelung in der eignen Kultur und Sprache, Entwicklung einer sensiblen Beziehung zur Natur und Respekt gegenüber anderen Kulturen. Die pädagogischen Begleiter verbringen mit den Kindern viel Zeit im Wald und besuchen oft chantische Rentierplätze und Dörfer, die sich entlang der Flussläufe befinden.

Camp - Numsang Lokh
Bild: Camp „Numsang Iokh“, Kazym

Dort soll die Tradition den jungen Menschen sozialen Halt, Selbstbewusstsein und Zukunftsperspektiven bieten und ihre ethnische Identität stärken. An den Camps nehmen Chanty, Mansi, Nenets, Komi, Russen und Kinder anderer ethnischer Zugehörigkeit teil.

Die meisten Kinder sind aus gemischten Familien. Die Sommercamps, die sich in abgelegenen Orten in Wald- und Flussnähe befinden, werden für ihre Teilnehmer zum Zentrum ihrer persönlichen Entwicklung und kreativer Gestaltung kultureller Vielfalt.

So erzählen Pädagogen den Camp-Teilnehmern Mythen und Märchen über ihre Vorfahren und lokalen Schutzgeister, aber auch über die heilige Bedeutung bestimmter Tiere, Orte und Bäume. Kinder und Jugendliche erfahren, dass es regionale Unterschiede in Tanz, Musik, Kleidung und Sprachen gibt. Jedes Territorium, die Flüsse und Berge werden von verschiedenen Schutzgeistern bewohnt, die in einem komplexen Beziehungsgeflecht miteinander verbunden sind. Dieses Wissen verpflichtet die Teilnehmer zur Einhaltung von bestimmten Tabus und zahlreicher Regeln. So lernen sie, dass man in der Gegenwart des Feuers keine schlechten Worte sagen darf, man darf nicht hinein spuken und nicht mit metallischen Objekten darin herum stochern.

Um Kinder und Jugendliche zu interessieren, werden neue Formen gesucht, Traditionen zu überliefern und neue zu erfinden, so dass diese „up to date“ sind. So reichen die (Zukunfts)Ideen von der Ausstattung eines nomadischen Zeltes – dem Tschum – mit Solarzellen bis zur Entwicklung von eigenem erkennbarem Modedesign und Musikgenre.

Junge Musiker kombinieren Melodien, die mit indigenen Musikinstrumenten gespielt werden mit global verbreiteten Rock und Pop Motiven aus dem Westen. Durch diese Art von Vermischung und kreativem Weiterspinnen von Melodien entstehen neue Klänge und Rhythmen. Zudem werden traditionelle Melodien als Grundlage genommen und mit klassischen Musikinstrumenten wie Gitarre und Klavier instrumentalisiert und begleitet.

Traditionelles Tipi Zelt Tschum
Bild: Das traditionelle Tipi-Zelt (Tschum) ist bereit für eine Theateraufführung
Sehr beliebt unter jungen Frauen ist die Entwicklung von Modedesign mit „ethnischen“ Motiven. Mädchen sollen dabei zu Meisterinnen in den traditionellen Tätigkeiten der Frau erzogen werden. Sie sollen befähigt werden, zahlreiche traditionelle Muster, die jeweils einen eigenen Namen und Bedeutung haben, voneinander zu unterschieden und so zusammen zu setzen, dass keine Normen verletzt werden. Doch die Vorschriften der älteren Frauen werden nicht immer befolgt, so dass Muster in kreativen Köpfen manipuliert und neu zusammengesetzt werden. Sie gestalten neue Kollektionen von Kleidern, die ihnen modern erscheinen und gleichzeitig lokale Besonderheiten tragen.

Eine andere Möglichkeit, lokale Traditionen zum Ausdruck zu bringen, ist, sich die Technologien wie Video, Photographie und Animation anzueignen und zunutze zu machen. Technologische Entwicklungen werden nicht verweigert, sondern selektiv gebraucht, um eigene Sichtweisen auf die Welt darzustellen und um eigene Erfahrungen zu reflektieren.

Wenn indigene Kinder heute aufwachsen, spielen sie ebenso wie andere Kinder Computerspiele und schauen Zeichentrickfilme. Doch die mediale Vermittlung spiegelt kaum ihren Alltag, die Umweltbesonderheiten des Ortes oder die wirtschaftliche Tätigkeiten ihrer Eltern wieder.

In den letzten Jahren wurden erste Animationen und comics auf der Grundlage chantischer Märchen produziert. Es ist nicht erstaunlich, wie sehr diese Märchen beliebt sind, da Kinder und Erwachsene sich darin wieder finden.

Narsiuch
Bild: Abendliches Zusammenkommen am Lagerfeuer mit Gitarre und traditionellem Musikinstrument Narsjuch.
Comics der Kinder aus Kazym
Bild: In: FUgrics: Comics der Kinder aus Kazym