Jugendaustausch 2014

Reisebericht zum Jugendaustausch 2014 in Russland (von Robinson Dörfel)
Die innere Unruhe war groß und meine Gedanken rastlos am Vorabend der Reise. Ablenkung fand ich nur im scheinbar nicht endenden Akt des Zusammenpackens meiner Habseligkeiten für das anstehende Abenteuer. Einstweilen schritt die Nacht voran, und ehe ich mich zum Schlaf betten konnte, graute der Morgen und die Zeit drängte zum Aufbruch. Ein Zug weiß bekanntermaßen nichts von der bittersüßen Zeitlosigkeit des Unbekannten. Ich machte ich mich also auf Richtung Bahnhof und stand somit am Beginn einer aufregenden und ereignisreichen Reise nach Sibirien.
Die erste Etappe führte nach Berlin, wo sich unsere Reisegruppe zusammenfand und per Flugzeug nach Moskau weiterreiste. Die freudige Erwartung auf die kommenden drei Wochen weichte vorübergehend der Anspannung die fliegen für manche Menschen so mit sich bringt und brach erst nach der geglückten Landung wieder hervor. Der gestrenge Blick und die ernste Miene der Zollbeamtin bei der Passkontrolle sollten den ersten Kontakt mit Russland markieren und ihr kurzes Lächeln am Ende der Prozedur erschien mir im Nachhinein, wie ein liebevoller Willkommensgruß und eine Geste die uns auf unserer Reise noch des Öfteren begegnen sollte.
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Die guten Kontakte unserer sibirischen Freunde bescherten uns anschließend einen herzlichen Empfang und brachten uns mit Svetlana und Natalia zwei liebenswerte Begleiterinnen für die wenigen Tage in Russlands Hauptstadt. Berauscht vom Großstadtflair trieben wir vom Flughafen ins Zentrum, von dort weiter ins Hostel, weiter zum Essen, dann weiter durch die nächtlichen Straßen und vorbei an bedeutenden Bauwerken, bis wir endlich und zu später Stunde auf dem Roten Platz etwas Ruhe fanden, uns der Philosophie des Alltags hingaben und Wortkompositionen von zweifelhafter Schönheit schufen. Der nächste Tag stand ganz im Zeichen einer Stadterkundung und verband sich dementsprechend mit mächtigen Schritten auf stumpfem Geläuf. Ein wenig Kreml und roter Platz, das zu westliche GUM, der falsche Gorki-Park und der richtig überfüllte Arbat sowie ein Zahnarztbesuch bildeten die Säulen der ambitionierten Aufgabe „Moskau an einem Tag“. Umso schöne und entspannter war der abschließende Abend. Gemeinsam mit unseren Begleiterinnen aus Moskau, deren Zahl sich inzwischen auf drei erhöht hatte, ging es in ein traditionelles russisches Restaurant mit entsprechenden Speisen und Getränken sowie hervorragend tanzbarer Livemusik. Ein wunderbarer Ausklang eines viel zu kurzen Zwischenstopps.
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Nach dem überhöhten Tempo der Großstadt ging es nun in einer 3-tägigen Zugreise in Richtung westsibirischer Tiefebene, was auch das Gefühl von Zeit in neue Formen gießen sollte. Zunächst aber trafen wir noch Elena aus der Ukraine, die uns auf unserer Reise und auch im Camp begleiten sollte und die sich in vielen Situationen, als ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Befindlichkeiten herausstellte. Nun ging es also mit der viel beschriebenen Transsibirischen Eisenbahn über Perm nach Priobye, wo wir nach 2-stündiger Fährfahrt und noch mal 3-stündiger Autofahrt letztendlich in Kazym angekommen waren. Die drei Tage in den Waggons der ‚Transsib‘ mit ihrem gleichförmigem, lediglich von kurzen Pausen unterbrochenem, „Badom-Badom“ unter den Füßen waren dabei eine ganz eigene Erfahrung.
Ein ungewöhnliches Gefühl von Zeitlosigkeit, viele von uns hingen ihren Gedanken nach, paarte sich mit den Blicken aus neugierigen Augen, kuriosen Begegnungen und manch seltsamen Begebenheiten. Es ist also allein die Anreise, die den Aufbruch lohnenswert macht. Und danke an Elena für ihren unermüdlichen Einsatz während dieser Fahrt.
Angekommen in Kazym wurden wir sehr warmherzig empfangen und zunächst für eine Nacht auf Gastfamilien aufgeteilt. Am nächsten Tag sollte es dann per Boot in das zwei Stunden entfernte Kinder- und Jugendcamp von Kazym gehen. Dort angekommen wurden wir mit einem traditionellen Begrüßungsritual und dem „Langsamen Tanz der Frauen“ überrascht. Anschließend wurde uns das Camp bei einem Rundgang gezeigt und wir bekamen die Möglichkeit unsere eigene Behausung (Tschum) aufzubauen und einzurichten. In den nächsten drei Tagen hatten wir dann Zeit uns näher kennenzulernen, gemeinsam mit unseren sibirischen Gastgebern die Lebenswesen der Chanten und Mansen zu erfahreIMG_2582n und in zusammen gestalteten Workshops Verschiedenes zu erproben. Die Aktivitäten reichten dabei von Erkundungsausflügen (z. B. Sumpfwanderung) und Überlebensstrategien im sibirischen Tiefland, über Beiträge mit Tanz, Gesang und Kleinkunst bis hin zu intensiven Sportspielen und Massageworkshops. Besonderer Höhepunkt waren die in Kleingruppen erarbeiteten und allabendlich im Gemeinschaftstschum uraufgeführten künstlerisch-kulturellen Beiträge.
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In dieser Zeit konnten wir dann auch als Gruppe zusammenwachsen und uns auf persönlicher Ebene begegnen, was aufgrund sprachlicher Barrieren durchaus eine Herausforderung darstellte. Glücklicherweise gibt es noch andere Möglichkeiten sich auszudrücken, was in dieser Intensität eine wirklich wunderbare Erfahrung war. Und zur ‚Absicherung‘ hatten wir mit Olga einen großartigen Menschen an unserer Seite, der uns bei der Übersetzung unterstütze. Die drei Tage im Camp gingen somit recht schnell ins Land und waren überdies Auftakt zu einer fünftägigen Flusstour, die uns noch tiefer in die Lebensweise der Chanten und Mansen eintauchen lassen sollte.
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Das Gefühl während dieser Tour lässt sich schwer in Worte fassen und die Tage auf dem Fluss sowie an dessen Ufern wirken auch viele Wochen danach noch seltsam entrückt. Eine Stimmung so herrlich unspektakulär und dennoch mit einer fast magischen Aura. Verlorene Orte? Vielleicht, aber keine leblosen. Unsere Aktivitäten während dieser Tage waren weit weniger dicht und intensiv. Sicher, wir waren jagen und angeln, haben Rentierherden besuchDSC_0595t und vieles über die Kultur und Geschichte der hier lebenden Menschen erfahren. Wir haben einige heilige Stätten besucht und durften an einer rituellen Begehung von Bärenspielen teilnehmen. Aber all diese Dinge konnten sich erst in eben jener Stimmung und Umgebung entfalten, die dieser Ritt auf dem Rücken des Flusses Kazym mit sich brachte und der seine ganz eigene Geschichte erzählte. Selbst heute noch, wenn wir uns manchmal sehen und über die Reise sprechen, kehrt in kurzen Momenten das Gefühl unumwunden zurück.
Nach diesem sehr einschneidenden Erlebnis ging es zurück in das Camp, wo wir noch eine Nacht blieben und am nächsten Tag ein wenig bei den Vorbereitungen halfen, die das Camp winterfest machen sollten. Dann ging es für uns zurück ins Dorf und zu den Gastfamilien. Ich muss gestehen, dass ich mich zunächst einigermaßen schwertat mit der Rückkehr in belebtere Gegenden. Doch hatten wir auch für die kommenden Tage noch viele spannende Dinge zu erleben und so trat der Abschiedsschmerz einstweilen in den Hintergrund.
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So besuchten wir die Schule in Kazym und wohnten dem ersten Schultag der ‚ABC-Schützen‘ bei. Wir wurden von der Bürgermeisterin Kazyms empfangen und sprachen im nahen Belojarski mit einem kommunalen Politiker über die Entwicklungsmöglichkeiten in der Region. Auch der Besuche Heimatmuseums in Kazym, welches von den Anwohnern in liebevoller Arbeit gestaltet und betrieben wird, stand auf dem Programm und bot über347dies die Möglichkeit sich in verschiedenen Kunsthandwerken zu versuchen. In diesen Räumen, die gleichzeitig so etwas wie das kulturelle Zentrum sind, fand auch das gemeinsam gestaltete Abschiedsfest statt. Trotz der nahenden Abreise war dieses Fest mit seinen Sketcheinlage und kleinen Spielen, mit Gesang und Tanz sowie köstlichen Speisen ein würdiger Abschluss und hinterließ ein wohlig warmes Gefühl in der Magengegend.
Der letzte Teil unserer Reise führte uns noch nach Khanty-Mansiysk, wo wir zu unserem Erstaunen einige aus Kazym sowie einige aus früheren Austauschprojekten wiedertrafen. Die verbleibenden zwei Tage verbrachten wir also wieder in Gastfamilien und besuchten noch einige sehenswerte Orte. Unter anderem die Kunsthochschule und Universität sowie einige Museen und Galerien. Aber auch hier rückte der, vorerst endgültige, Abschied näher und so zogen wir nach einer schlaflosen letzten Nacht mit unvergesslichen Eindrücken und sehnsuchtsvollen Gedanken gen Flughafen, um abzuheben Richtung westlicher Gefilde.
Am Ende bleibt für mich die Erkenntnis, dass Verständigung, über welche Grenzen auch immer, zunächst nur in kleinen Schritten und Gesten gedeihen kann und erst mit der Zeit über sich selbst hinaus wächst. Vielleicht ist das ja die eigentliche Botschaft dieses Austausches und zugleich Ausgangspunkt einer nicht enden wollende Reise.