Die Partnerorganisation

Das Zentrum für historisches und kulturelles Erbe „Kasum Yoch“

Unser sibirischer Kooperationspartner ist ein Initiativkreis der Chanty, Komi und Waldnenzen in dem Erwachsene und viele Studentinnen und Studenten aktiv sind. Die Aktiven im Dorf Kazym organisieren Werkstätten, Seminare und im Sommer kulturelle Camps für Kinder und Jugendliche aus der Region, in denen sie indigenes Wissen weitergeben und sich mit aktuellen Problemen ihrer Region auseinandersetzen. Hier lernen Kinder und Erwachsene wie man aus Rentierfell näht, aus der Birkenrinde Gefäße herstellt, Fisch verarbeitet und ein traditionelles Boot baut. Außerdem gibt es viele Theaterprojekte, Wiederbelebung traditioneller Tänze, Gesänge und Feste.
Die Organisation findet auf der Basis des Kazymer Freilichtmuseums „Zentrums für historisches und kulturelles Erbe „Kasum Yoch“ statt. Kasum Yoch bedeutet auf Chantisch „Die Menschen von Kazym“. Das Kazymer Gebiet wird von den Chanty auch als „das Land des Ellenbogens einer Katze genannt“. Diese Bezeichnung bezieht sich auf die Schutzgöttin des Kazymer Territoriums, die eine Gestalt einer schwarzen Katze annehmen kann.
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Bild: „Zentrum für historisches und kulturelles Erbe „Kasum Yoch“, Kazym, ChMAO – Jugra
Karte - Jugra
Das Dorf Kazym befindet sich am gleichnamigen Fluß im Chanty-Mansischen Autonomen Gebiet – Jugra (Abk.: Jugra), das sich östlich des Uralgebirges in der westsibirischen Tiefebene befindet.

Die Tiefebene wird von den Flüssen Ob und Irtysch durchflossen und bildet das größte Sumpf- und Moorgebiet der Erde. Jugra ist etwa so groß wie Frankreich, Chanty-Mansijsk ist die Hauptstadt. Das Gebiet wird heute mehrheitlich von Russen bewohnt. Von den 1,5 Millionen Einwohnern sind etwa 2 Prozent Indigene.

In Jugra leben viele indigene Gruppen Chanty, Mansi, Waldnenzen und Komi, wobei nur die ersten drei einen indigenen Status der „zahlenmäßig kleinen Völker des Nordens“ haben. Die Mehrzahl der Indigenen lebt in Dörfern und Siedlungen, die während der Sowjetzeit gegründet wurden, um die verstreut in der Taiga lebenden oder in der Tundra nomadisierenden Rentierzüchter und Fischer anzusiedeln.

Nur 10 Prozent von ihnen leben ständig in der Taiga und betreiben Rentierzucht, Jagd, Fischfang und Sammeln. Unsere Partner im Dorf Kazym pflegen aktive Beziehungen zu den Menschen, die in abgelegenen Dörfern und Rentierplätzen leben und dokumentieren ihre Lebensweise, traditionelles Handwerk und Folklore, um es an die nächste Generation weiterzugeben.

Aktuelle Projekte in Sibirien

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Kulturelle Camps für Kinder und Jugendliche

Das Konzept der Camps ist einerseits, bei den Kindern das Interesse für die eigene kulturelle Herkunft zu wecken und andererseits auch bewusstes Aneignen der Errungenschaften der modernen Welt zu ermöglichen. Zu den weiteren Zielen der Camps gehören: Verwurzelung in der eignen Kultur und Sprache, Entwicklung einer sensiblen Beziehung zur Natur und Respekt gegenüber anderen Kulturen. Die pädagogischen Begleiter verbringen mit den Kindern viel Zeit im Wald und besuchen oft chantische Rentierplätze und Dörfer, die sich entlang der Flussläufe befinden.

Kultur & Geschichte

„Kulturelle Vielfalt in Westsibirien“ | Von Ina Schröder

„Ich bin Chanty. Ich sage es laut und deutlich. Ich bin ein Mensch. Ich sage es laut und deutlich. Ich möchte die Kultur und die Sprache meines Volkes bewahren. Es ist sehr teuer für mich, weil ich ohne mein Volk in dieser Welt ein Niemand bin“. So fängt ein Artikel einer jungen Frau an, die einem kleinen Dorf in Westsibirien geboren ist. In ihren Worten spiegelt sich die Besorgnis wieder, die heute viele Indigene in Westsibirien, aber auch weltweit empfinden: der Verlust ihrer Sprachen und kulturellen Weltanschauung bedeutet eine persönliche und kollektive Entwurzelung. Von denjenigen, die in Städten oder Siedlungen Westsibiriens aufwachsen, werden indigene Sprachen kaum in der alltäglichen Kommunikation benutzt. Nur wenige junge Leute können sich auf Mansisch oder Chantisch unterhalten, obwohl die Sprachen in Schulen unterrichtet werden.

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–In diesem Artikel geht es darum zu beschreiben, wie einige Vertreter indigener Bevölkerungsgruppen der Chanty und Mansi in Westsibirien ihre kulturelle Differenz aufrechterhalten, indem sie sich sozial engagieren und in Bezug auf die Mehrheitsbevölkerung Gegenentwürfe zu ihrem von außen definierten Image entwickeln. Ihre Bemühungen kann man als Prozess des Neo-Traditionalismus bezeichnen, in dem Tradition von innen heraus definiert und im gegenwärtigen Kontext politisch, ökonomisch und sozial als Ressource eingesetzt wird. Das „Neo“ steht eben für Ziele, Absichten und Interessen, die heute mit Tradition verbunden werden. Der soziale Wandel, der durch Missionierung, Sowjetisierung und Industrialisierung das Leben indigener Gemeinschaften einschneidend veränderte, erfordert neue kreative Ideen und Entscheidungen, um kulturelle Kontinuität zu ermöglichen. Was tun, wenn Alte aus dem Leben scheiden und es immer weniger Menschen gibt, die Märchen und Mythen kennen? Heute können nur wenige Kinder aus indigenen Familien sagen, dass sie es sich neben ihrem Opa oder Oma bequem machen können, um Geschichten in ihrer Muttersprache zu hören.

Während es weder im Chantischen noch im Mansischen ein Wort für „Tradition“ gibt, benutzt man das Russische Wort tradicija, um auf eine andere Weltanschauung und Lebensweise aufmerksam zu machen. Tradition wird je nach Verständnis der Akteure immer wieder neu sortiert, anders geordnet und mit Sinn besetzt, so dass sie Antworten auf wichtige Fragen von Heute liefern kann. Außer persönlicher und kollektiver Identifikation dient sie außerdem dazu, eigene Bemühungen politisch zu legitimieren und Rechte einzufordern.

Chanty (17.955) und Mansi (10.630) gehören zu den indigenen Minderheiten im Chanty-Mansischen Autonomen Distrikt, Russland. Sie leben im Einzugsgebiet zahlreicher Nebenflüsse des Flusses Ob und ihre Eigenbezeichnungen entsprechen den Flusssystemen, die sie bewohnen. kasum joh bedeutet zum Beispiel auf Chantisch: die „Leute vom Fluss Kazym“. Die ethnischen Bezeichnungen wie Chanty, Mansi, Komi oder andere wurden erst dann wichtig, als man sich von anderen indigenen Völkern abgrenzen wollte. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion fanden überall in Russland kulturelle Revitalisierungsbewegungen statt. Indigene Vertreter schlossen sich zu Organisationen zusammen, gründeten Institutionen, um ihre Interessen durchzusetzen und machten die Öffentlichkeit auf eine immense Umweltverschmutzung durch die Erdölförderung aufmerksam. Heute lebt nur ca. 2% der indigenen Bevölkerung des Distriktes im Wald von Rentierzucht, Fischerei und Jagd. Die meisten leben in staatlich eingerichteten Siedlungen oder Städten. In vielen herrscht eine prekäre soziale Lage, gepaart mit Arbeitslosigkeit, Alkoholmissbrauch und eine niedrige Lebenserwartung. Da Chanty und Mansi eine kleine Minderheit bilden, haben sie keinerlei Möglichkeiten, demokratisch auf die Meinungsbildung Einfluss auszuüben. Die indigenen Vertreter artikulieren ihr Verständnis und ihren Umgang mit Tradition im Kontext einer sozialen, ökonomischen und politischen Randlage in einem an Ölressourcen reichstem Distrikt Russlands.

Der Prozess des Neotraditionalismus ist ein Versuch mit heutigen Technologien, Bildungs- und Kommunikationsmöglichkeiten, mit nationalen und globalen Netzwerken Freiräume und Definitionsmacht über die eigene Lebensweise auszuloten. Die Bewahrung und Entwicklung kultureller Vielfalt hängt also auch davon ab, wie indigene Bewohner Westsibiriens ihre Interessen in Bezug auf staatliche Machstrukturen und Erdölfirmen artikulieren und durchsetzen können.

Kultur und kulturelle Vielfalt

Der Rentierhalter und Poet Juri Wella (Westsibirien) hat einmal gesagt: „In Gesprächen mit anderen Rentierhirten sei aufmerksam! Hör’ zu, frage, präge dir ein! Aber im Leben handle so, wie es dir dein Herz gebietet! Kopiere niemanden!“ Dieser Rat macht deutlich, dass kulturelle Vielfalt allein schon zwischen zwei benachbarten Rentierhalterplätzen existieren kann.
Im Folgenden gehe ich darauf ein, wie Kultur und kulturelle Vielfalt auf der Metaebene definiert und verstanden werden können. Als erstes kann man festhalten, dass Kultur nicht a priori existiert, sondern ein Konstrukt ist, das im jeweiligen Kontext von Zeit und Ort definiert und konstruiert wird. Verschiedene Akteure wie zum Beispiel Nationalstaaten, internationale Organisationen wie UNESCO oder soziale Gemeinschaften können unterschiedliche Kulturdefinitionen haben und diese umsetzen. So diente in der Sowjetunion die Institution das „Haus der Kultur“ dem Zweck, Menschen zu zivilisieren, sie aus ihrer Rückständigkeit rauszuholen und bestimmte kulturelle Normen zu vermitteln. „Kultur“ hatte eine normative Funktion, den Menschen zu „kultivieren“, sprich sozialistisch zu erziehen. Zahlreiche indigene Gruppen in der UdSSR konnten ihre kulturelle Andersheit in Form von Folklore nach Außen darstellen, doch nach innen sollten sie sich dem Sozialismus verpflichtet fühlen. So hat die äußere Vielfalt kultureller Repräsentation in Form von Folklore die eigentliche Vereinheitlichung der Differenzen in kulturellen Bedeutungssystemen verdeckt.

Vor allem ethnologische Theorien haben Kulturen so beschrieben, als seien sie an ein Territorium gebunden, stabil und klar von einander abgegrenzt. Wenn man sich kulturelle Vielfalt als eine Welt aus Mosaiksteinchen, die verschiedene Kulturen repräsentieren vorstellt, dann entgeht einem das Entscheidende: kulturelle Vermischungen, die durch Mobilität und Interaktion mit anderen ethnischen Gruppen stattfanden. Diese haben wirtschaftliche Tätigkeiten, Innovationen, religiöse Vorstellungen von einander übernommen und an die je eigenen Realitäten angepasst. Man kann dies an der sprachlichen Entwicklung zeigen. So wurden für neue Objekte, die die russische Bevölkerung mit sich nach Sibirien brachte, in indigenen Sprachen neue Bezeichnungen eingeführt. Zum Beispiel wurde für das Wort „Gurke“ die mansische Bezeichnung vit churyg erfunden, die wörtlich „Wassersack“ bedeutet. Das russische Wort baraban für „Trommel“ wurde zu parapan, da es im Mansischen keine scharfen Konsonanten gibt. Umgekehrt entlehnten auch Russen von ethnischen Minderheiten im Norden Wörter in ihren Wortschatz. Das als traditionell russisch geltende Gericht pil’meni (Teigtaschen mit Fleisch) kommt eigentlich von den Komi und bedeutet „Ohren aus Teig“.

Man kann also festhalten, dass Kultur keine feste Größe ist, sondern sie kann als ein offenes, dynamisches Bedeutungssystem der Welt verstanden werden, dessen Grenzen fließend sind und das je nach situativer Perspektive der Kulturträger verschiedene Interpretationen und Ambiguitäten zulässt. Die Vielfalt ergibt sich also nicht nur aus der Differenz zwischen kollektiven Bedeutungssystemen, sondern auch in der Plastizität innerhalb einer kulturellen Weltanschauung und den Variationen, die sich daraus ergeben. Darüber hinaus bedeutet die Fähigkeit der Menschen trotz sprachlicher und kultureller Differenzen miteinander interagieren zu können, dass es auch universelle, kulturübergreifende Gemeinsamkeiten gibt, die uns alle verbinden.

Bei der Betonung kultureller Vielfalt dürfen soziale Unterschiede und Machtverhältnisse in einer Gesellschaft nicht außer Acht gelassen werden. So werden kulturelle Differenzen auch von staatlichen Institutionen betont, um Indigene als Attraktion, exotische Besonderheit oder Markenzeichen der Region darzustellen. Die Problematik der „Vielfalt“ wird dadurch deutlich, dass eine nationale Politik des Multikulturalismus vielfach soziale Ungleichheiten und Missstände kaschiert. Indigene Akteure versuchen jedoch mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, diese Machtasymmetrien umzudrehen.

Kulturelle Aktionen

Räume für Kreativität besetzen

Es gibt indigene Aktivisten, die neue Räume und Wege schaffen, durch die sie ihre soziale Integrität bewahren und Gestaltungsmöglichkeiten erweitern können. So hat der Rentierzüchter Juri Wella versucht, staatliche Machtträger ins System seiner Weltanschauung zu integrieren. Er hat den Präsidenten Boris Jelzin und Vladimir Putin symbolisch Rentiere geschenkt, um sie zur Verantwortung zu verpflichten. Durch die Schenkung wird auf spiritueller Ebene das Wohl des Präsidenten mit dem Wohl des Rentieres verknüpft.

Vernachlässigt der Politiker seine Rentiere, wirkt sich das negativ auf sein eigenes Schicksal aus. Juri Wella sagt dazu:
„Von Zeit zu Zeit opfern wir Rentiere. Wenn der Präsident erkrankte, fühlte ich, dass ich genau dieses Rentier den Göttern für seine Gesundheit opfern müsste. … Wenn das dem Präsidenten nicht gefällt, kann er jederzeit sein Rentier abholen, aber ich wirke sozusagen über das Rentier auf ihn ein. Das Rentier beeinflusst überhaupt das menschliche Leben. Ein Rentier zu besitzen oder ein Rentier zu bekommen, ist für den Menschen eine große Ehre und eine große Verantwortung. Zwischen dem Rentier und seinem Herrn bildet sich eine bestimmte Beziehung. … Der Mensch denkt, dass er wichtiger ist als das Rentier, dass er das Leben des Rentiers in der Hand hat, dass er es hierhin oder dorthin treiben kann. Vor einiger Zeit kam mir der Gedanke, dass das überhaupt nicht so ist. Der Mensch glaubt das nur. In Wirklichkeit hängt das menschliche Leben vollständig vom Leben des Rentiers ab. Das Rentier ist das Zentrum der Welt. Wenn es dem Rentier gut geht, dann verläuft auch das menschliche Leben glücklich. Wenn es dem Rentier schlecht geht, dann wird es auch dem Menschen schlecht gehen.“

Juri Wella hat den Präsidenten Briefe geschrieben, bekam aber nie eine direkte Antwort. Für das Ritual der Opferung wurden Fernsehteams eingeladen, um den Akt öffentlich zu machen. Durch diese symbolische Handlung der Schenkung wurden die existierenden Machverhältnisse umgedreht und die Weltsicht der Rentierzüchter zum Mittelpunkt des Geschehens gemacht.

Räume für Kreativität besetzen

Eine bewährte Initiative besteht in den zwei indigenen Siedlungen Kazym und Saranpaul, wo während der Sommerferien für Kinder und Jugendliche im Wald Camps organisiert werden, um bei den Teilnehmern Interesse für ihre kulturelle Herkunft und Sprache zu wecken. Dort soll die Tradition den jungen Menschen sozialen Halt, Selbstbewusstsein und Zukunftsperspektiven bieten und ihre ethnische Identität stärken. An den Camps nehmen Chanty, Mansi, Nenets, Komi, Russen und Kinder anderer ethnischer Zugehörigkeit teil. Die meisten Kinder sind aus gemischten Familien. Die Sommercamps, die sich in abgelegenen Orten in Wald- und Flussnähe befinden, werden für ihre Teilnehmer zum Zentrum ihrer persönlichen Entwicklung und kreativer Gestaltung kultureller Vielfalt.

So erzählen Pädagogen den Camp-Teilnehmern Mythen und Märchen über ihre Vorfahren und lokalen Schutzgeister, aber auch über die heilige Bedeutung bestimmter Tiere, Orte und Bäume. Kinder und Jugendliche erfahren, dass es regionale Unterschiede in Tanz, Musik, Kleidung und Sprachen gibt. Jedes Territorium, die Flüsse und Berge werden von verschiedenen Schutzgeistern bewohnt, die in einem komplexen Beziehungsgeflecht miteinander verbunden sind. Dieses Wissen verpflichtet die Teilnehmer zur Einhaltung von bestimmten Tabus und zahlreicher Regeln. So lernen sie, dass man in der Gegenwart des Feuers keine schlechten Worte sagen darf, man darf nicht hinein spuken und nicht mit metallischen Objekten darin herum stochern.

Um Kinder und Jugendliche zu interessieren, werden neue Formen gesucht, Traditionen zu überliefern und neue zu erfinden, so dass diese „up to date“ sind. So reichen die (Zukunfts)Ideen von der Ausstattung eines nomadischen Zeltes – dem Tschum – mit Solarzellen bis zur Entwicklung von eigenem erkennbarem Modedesign und Musikgenre. Junge Musiker kombinieren Melodien, die mit indigenen Musikinstrumenten gespielt werden mit global verbreiteten Rock und Pop Motiven aus dem Westen. Durch diese Art von Vermischung und kreativem Weiterspinnen von Melodien entstehen neue Klänge und Rhythmen. Zudem werden traditionelle Melodien als Grundlage genommen und mit klassischen Musikinstrumenten wie Gitarre und Klavier instrumentalisiert und begleitet.

Bei den Mansi gilt ein siebenseitiges Musikinstrument Sankvyltap (Mansisch: das Klingende) als heilig und darf ursprünglich nur von Männern gespielt werden. Heute jedoch spielen dieses Instrument auch junge Frauen. Es ist eine Aushandlungssache zwischen verschiedenen Akteuren, ob, wo und wann Frauen das Instrument spielen dürfen. Sankvyltap ist ein beliebtes Instrument, um Märchenaufführungen zu begleiten. Für die Chanty und Mansi spielt die orale Tradition eine sehr wichtige Rolle. Da es nur wenige Alte gibt, die in die Camps als Erzähler eingeladen werden können, entnehmen die Teilnehmer Märchen aus den Büchern, die von Ethnographen publiziert wurden. Die Märchen werden inszeniert, miteinander aufgeführt und so zu neuem Leben erweckt.

Sehr beliebt unter jungen Frauen ist die Entwicklung von Modedesign mit „ethnischen“ Motiven. Mädchen sollen dabei zu Meisterinnen in den traditionellen Tätigkeiten der Frau erzogen werden. Sie sollen befähigt werden, zahlreiche traditionelle Muster, die jeweils einen eigenen Namen und Bedeutung haben, voneinander zu unterschieden und so zusammen zu setzen, dass keine Normen verletzt werden. Doch die Vorschriften der älteren Frauen werden nicht immer befolgt, so dass Muster in kreativen Köpfen manipuliert und neu zusammengesetzt werden. Sie gestalten neue Kollektionen von Kleidern, die ihnen modern erscheinen und gleichzeitig lokale Besonderheiten tragen.

Eine andere Möglichkeit, lokale Traditionen zum Ausdruck zu bringen, ist, sich die Technologien wie Video, Photographie und Animation anzueignen und zunutze zu machen. Technologische Entwicklungen werden nicht verweigert, sondern selektiv gebraucht, um eigene Sichtweisen auf die Welt darzustellen und um eigene Erfahrungen zu reflektieren. Wenn indigene Kinder heute aufwachsen, spielen sie ebenso wie andere Kinder Computerspiele und schauen Zeichentrickfilme. Doch die mediale Vermittlung spiegelt kaum ihren Alltag, die Umweltbesonderheiten des Ortes oder die wirtschaftliche Tätigkeiten ihrer Eltern wieder. In den letzten Jahren wurden erste Animationen auf der Grundlage chantischer Märchen produziert. Es ist nicht erstaunlich, wie sehr diese Märchen beliebt sind, da Kinder und Erwachsene sich darin wieder finden.

Sich verbinden

Die Ausführungen oben haben gezeigt, wie Indigene nach Wegen und Möglichkeiten suchen, ihre ganz besonderen Blickwinkel auf die Welt zum Ausdruck zu bringen, so dass sich der Bezug zum Land und ihren Heiligtümern, die Verbindung von Lebensweise und Naturverhältnis, ihre Spiele, Kleidung, Musik und Gesänge widerspiegeln. Dabei fordern sie Respekt, Anerkennung und Gestaltungsmacht, ihre Lebensweise selbst zu bestimmen. Sie zeigen uns, dass Kreativität das wichtigste Instrument ist, mit Widersprüchen und Ambiguitäten komplexer Realität umzugehen. Dabei sollen eigene Sinneserfahrungen und eigene Praxis eine wichtige Rolle bei der Identitätsbildung spielen und weniger das Vertrauen auf dominante Perspektiven der umgebenden staatlichen Institutionen oder Politik.

Das Beispiel von Juri Wella dient als politischer Akt, um die Präsidenten auf die Situation in Westsibirien aufmerksam zu machen und die Weltordnung für die Öffentlichkeit symbolisch umzudrehen. Nicht die Zahlen der Erdölgewinne, sondern die Bedeutung des Rentiers sollte dabei im Mittelpunkt stehen. Für uns wäre es wichtig zu verstehen, dass ein symbolischer Tausch zwischen uns und den Menschen in anderen Regionen der Erde uns helfen würde, globale Verflechtungen persönlich zu erleben und zu gestalten. Würde uns Juri Wella Rentiere schenken, so wären wir symbolisch mit dem Gebiet, in dem Erdöl gefördert wird und Rentierzüchter leben, verbunden. Dann würde Globales Lernen bedeuten, reale Beziehungen mit Menschen und anderen Lebewesen einzugehen, was Empathie und Sinn für gegenseitige Abhängigkeiten mit sich bringen würde.

 

Der Artikel erschien im Rahmen des Um. Welt Projektes im:

global.patrioten
Begegnungen, Positionen und Impulse zu Klimagerechtigkeit, Biologischer und
Kultureller Vielfalt
ISBN:978-3-86581-297-1

Erscheinungstermin: 03.04.2012

 

Links und weiterführende Literatur

https://dh-north.org/en – Umfassende Dokumentation der indigenen Bevölkerung des Nordens

https://dh-north.org/publikationen/der-tag-des-rentierzuechters/de – Offen zugängliche Monografie von Stephan Dudeck: „Der Tag des Rentierzüchters: Repräsentation indigener Lebensstile zwischen Taigawohnplatz und Erdölstadt in Westsibirien“

http://www.siberian-studies.org/ – ethnologische Publikationen über indigene Bevölkerung Sibiriens

https://library.oapen.org/handle/20.500.12657/23657 – Offen zugängliche Publikation „Lebensstile in Sibirien und Russischem Norden“ auf Englisch